Buchbesprechung
(veröffentlicht in „Das Goetheanum“ Nr. 10, 2008 „Das Denken erfahren – beobachten“)
Michael Muschalle: Studien zur Anthroposophie Bd. 1. Beobachtung des Denkens bei Rudolf Steiner, Books on Demand GmbH, Norderstedt 2007
Michael Muschalle hat einen Teil seiner online veröffentlichten Studien zur Anthroposophie (1) unter dem Thema „Beobachtung des Denkens bei Rudolf Steiner“ als Buch zusammengestellt. Schon seine Dissertation von 1989 (2) ist diesem Thema gewidmet. Der Begriff „Beobachtung des Denkens“ ist ein zentraler Begriff der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Die allerwichtigste Beobachtung, die der Mensch machen kann, ist für Steiner die Beobachtung des Denkens (3). Sie ist bedeutend für ein Verständnis der Wesenheit des Geistigen, die in dieser Gestalt uns zunächst entgegentritt. Sie ist Fundament für jede Erkenntnis, egal ob sinnlich, seelisch oder geistig und auch für jedes am Freiheitsprinzip orientierte Handeln. Leider ist bis heute dieser so entscheidende Begriff weitgehend unverstanden geblieben (4). Es ist das große Verdienst Muschalles, diesen Begriff erstmals zur Klarheit gebracht zu haben:
Das dritte Kapitel der Philosophie der Freiheit lässt eine Unsicherheit darüber aufkommen, ob das Denken beobachtbar ist oder nicht. Zur Klärung dieser Frage ist zu unterscheiden zwischen der Beobachtung des aktualen (gegenwärtigen) Denkens und der Beobachtung des Denkens. Die aktuale Beobachtung des Denkens ist nicht möglich, Steiner führt in diesem Zusammenhang ein zweifaches „nie“ an, deutlicher geht es nicht zu sagen. Die Beobachtung des Denkens hingegen ist möglich und für jeden zu haben, der guten Willens ist. Warum ist die Beobachtung des aktualen Denkens nicht möglich? Steiner führt dafür zwei Gründe an, die beide ihre Wurzel darin haben, dass wir das Denken selbst hervorbringen:
1. Es muss als Sachverhalt erst einmal vorliegen, damit es beobachtet werden kann (Gegebenheitsargument).
2. Es wäre nur dann aktual beobachtbar, wenn ich mich spalten könnte in eine Person, die denkt und eine andere, die sich selbst dabei zusieht. Das kann ich aber nicht (Spaltungsargument).
Das erste Argument gilt für jeden empirischen Sachverhalt, für jede Art von Gegebensein, auch für das Selbstgegebene, damit es beobachtbar ist, muss es auch vorliegen. Um das Spaltungsargument nachvollziehen zu können, muss man den Versuch machen, über etwas zu denken, etwa über einen Tisch und gleichzeitig das Denken über den Tisch in den Blick zu bekommen. Man stellt fest, dass das nicht geht, weil das Denken dann eine andere Richtung nimmt und das Denken über den Tisch unterbrochen wird. Wir haben soeben eine Erkenntnis über das Denken gewonnen, indem wir eine vergangene Denkerfahrung begrifflich durchdrungen haben, nämlich die Erfahrung, dass unser Denken über etwas verschwindet, wenn wir es aktual betrachten wollen. Diese Art von Erkenntnis, das Durchdringen von in der Erinnerung vorliegenden Denkerfahrungen, Denkerlebnissen mit Begriffen, die denkende Betrachtung von Denkerfahrungen ist nichts anderes als Beobachtung des Denkens im Sinne Steiners:
„Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. Ich müsste mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen. Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes.“ [fett:UW]
Wir sehen also, dass wir zu unterscheiden haben zwischen der Beobachtung des Denkens und seiner Erfahrung und die Beobachtung des Denkens in der denkenden Durchdringung, der denkenden Betrachtung von Denkerfahrungen besteht, in dem Aufbau eines Begriffs vom Denken. Das Denken wird aktual erfahren, erlebt und im Nachhinein beobachtet. Die Erfahrung des Denkens ist unser Drinnenstehen im Denken, unser Tätigkeitsbewußtsein vom Denken (5). Wir sind alle schon immer Begriffskünstler und hervorragende Logiker, verwenden Begriffe und auch logische Gesetze mit großer Sicherheit, ohne dass wir die geringste Ahnung hätten, was ein Begriff oder ein logisches Gesetz ist und auch nur ein Gesetz nennen könnten, dazu bedarf es eben der Beobachtung des Denkens. Die aktualen Erfahrungen des Denkens sind immer reine Erfahrungen, nicht schon mit Begriffen durchdrungen oder erkannt, da die aktuale Beobachtung des Denkens ja nicht möglich ist. Es ist somit, wenn man so will, kein Nachteil, dass das aktuale Denken nicht beobachtbar ist, sondern dies ist geradezu der Garant für die Erkennbarkeit des Denkens, denn wir haben zwischen dem, was in der Wahrnehmung, dem Gegebenen vorliegt und der Theorie darüber eine natürliche Grenze, die prinzipiell nicht überschreitbar ist und können es somit nicht verfälschen, was bei der übrigen Wahrnehmung nicht der Fall ist (6). Was wir bis hierhin erfahren haben, ist ein Erlebnis der Selbsterklärung des Denkens, denn auch das beobachtende Denken wird selbstverständlich erlebt.
Muschalle setzt sich mit zahlreichen anthroposophischen Autoren auseinander, wobei Herbert Witzenmann eine besondere Rolle zukommt. Dies nicht nur, weil er ein herausragender Interpret von Steiners Werk ist, sondern auch, weil seine Ergebnisse häufig ungeprüft übernommen werden. Sowohl das Spaltungsargument als auch Steiners Unterscheidung von Beobachtung des Denkens und Erfahrung des Denkens entgeht, wie es auch bei anderen Autoren der Fall ist, seiner Aufmerksamkeit. Dementsprechend sucht er die reine Wahrnehmung auch ausschließlich auf der Seite des Nicht-Gedanklichen. Die Erfahrungen des Denkens fallen bei ihm unter den Tisch. Dadurch fällt er in ein Konstrukt von Denkgebilden, das nicht mehr an der Erfahrung orientiert ist. Sofern man seine erkenntniswissenschaftlichen Schriften als eine Fortsetzung von Steiners ansieht, raubt er damit diesen das Fundament der Erfahrung.
(1) www.studienzuranthroposophie.de
(2) Die Dissertation ist unter der in (1) angegebenen Adresse erreichbar.
(3) Die Philosophie der Freiheit, GA 4, 3. Kapitel
(4) Das betrifft auch Muschalles Dissertation.
(5) Wenn der Faden des Denkens abreißt, wird das Gegenteil davon erlebt.
(6) Dies ist interessant im Hinblick auf das Basissatzproblem etwa bei Carnap, Popper und Kuhn.
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